„Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“

Rückblick: Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag

Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben, sagte Bundespräsident Joachim Gauck am vergangenen Dienstag in einer Gedenk-stunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes. Auch wenn der Holocaust nicht mehr für alle Bürger zu den Kernelementen deutscher Identität zähle, so gelte doch weiterhin: „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.“ Am 70. Jahrestag der Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch Soldaten der Roten Armee gedachte der Bundestag - wie in jedem Jahr seit 1996 - der Opfer des Nationalsozialismus. Bundestagspräsident Norbert Lammert hieß dazu neben dem Bundespräsidenten Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundesratspräsident Volker Bouffier und Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle sowie zahlreiche Ehrengäste auf der Tribüne willkommen.

Stellvertretend nannte Lammert den polnischen Journalisten Marian Turski, der als 18-Jähriger nach Auschwitz deportiert worden war und den Todesmarsch nach Buchenwald überlebte. Er teile die Sorge nicht, so Bundespräsident Gauck, dass das Interesse der jungen Generation an den nationalsozialistischen Verbrechen schwinden werde, sei sich aber bewusst, dass „sich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit weiter verändern wird und verändern muss“.

Selbst wenn man in Zukunft auf die Begegnung mit Zeitzeugen verzichten müsse, so müsse die emotionale Betroffenheit nicht verloren gehen. „Auch Angehörige der dritten und vierten Generation, auch Menschen ohne deutsche Wurzeln fühlen sich berührt, wenn sie in Auschwitz auf Koffern der Ermordeten die Namen ihrer einstigen Besitzer entdecken.“

Der Holocaust als Menschheitsverbrechen - diesen Weg der Annäherung hätten auch Eingewan-derte, selbst wenn sie sich nicht oder noch nicht als Deutsche fühlen. Gauck zitierte aus einem Brief einer jungen Frau aus einer Einwandererfamilie: „Ich habe keine deutschen Vorfahren, aber ich werde deutsche Nachfahren haben. Und die werden mich zur Rechenschaft ziehen, wenn heute Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten auf unserem Boden ausgeübt werden.“

Zeit seines Lebens werde er darunter leiden, sagte der Bundespräsident, dass die deutsche Nation „mit ihrer so achtenswerten Kultur zu den ungeheuerlichsten Menschheitsverbrechen fähig war“. Selbst eine noch so überzeugende Deutung des „schrecklichen Kulturbruchs wäre nicht imstande, mein Herz und meinen Verstand zur Ruhe zu bringen“. Es sei ein Bruch eingewebt in die „Textur unserer nationalen Identität, der im Bewusstsein quälend lebendig bleibt“. Wer „in der Wahrheit leben“ wolle, werde dies niemals leugnen.

Gauck erinnerte daran, dass allein bei der Befreiung von Auschwitz 231 Sowjetsoldaten ums Leben kamen. Vor ihnen „verneigen wir uns auch heute in Respekt und Dankbarkeit“. Die Bevölkerung der jungen Bundesrepublik habe wenig Mitgefühl mit den Opfern nationalsozialistischer Gewalt gekannt: „Die juristische Aufarbeitung sollte letztlich sehr unbefriedigend bleiben.“ In der DDR habe der staatliche Antifaschismus die Gesellschaft pauschal von der rechtlichen und moralischen Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen freigesprochen und damit auch das „Verdrängen von Versagen und Schuld, gerade auch des sogenannten kleinen Mannes“, befördert. „Ich hab keinen Ort mehr auf der Welt. Es ist ortlos, wo ich bin“, zitierte Bundestagspräsident Lammert zu Beginn der Gedenkstunde die jüdi-sche Dichterin Nelly Sachs. Die gebürtige Berlinerin habe sich im allerletzten Moment der bereits angeordneten Deportation entziehen können. Dagegen habe das Verbrechen seine Orte: Wie kein anderer Ort stehe Auschwitz als Synonym für „das, was Menschen Menschen antun können“.

In Auschwitz und anderen Konzentrationslagern hätten vor 70 Jahren nur noch wenige der Todgeweihten befreit werden können. „Wir gedenken der Entrechteten, Gequälten und Ermordeten: der europäischen Juden, der Sinti und Roma, der Zeugen Jehovas, der Millionen versklavter Slawen, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, der Homosexuellen, der politischen Gefangenen, der Kranken und Behinderten, all derer, die die nationalsozialistische Ideologie zu Feinden erklärt und verfolgt hatte“, betonte Lammert.

Erinnert werde auch an diejenigen, die mutig Widerstand geleistet oder anderen Schutz und Hilfe gewährt hätten und dafür selbst allzu oft mit dem Leben hätten bezahlen müssen. „Und unsere Gedanken sind bei all denen, die, wie Nelly Sachs, vom Trauma des Überlebens gezeichnet sind, deren Familiengeschichte vom Verlust ihrer Angehörigen und Freunde geprägt ist.“