Bundestag gedenkt der Opfer des Nationalsozialismus

Zwangsarbeiter im Mittelpunkt des diesjährigen Gedenkens – Ruth Klüger schildert ihre Erfahrungen

Am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz hat der Deutsche Bundestag der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gedacht. Im Mittelpunkt der Gedenkstunde standen in diesem Jahr die Millionen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im nationalsozialistischen Deutschland und besetzten Europa, deren leidvolle Geschichte erst mit Beginn der 1980er Jahre aufgearbeitet wurde. Ihre eigenen Erfahrungen als junges Mädchen im Arbeitslager Christianstadt schilderte die heute 84-jährige Literaturprofessorin Ruth Klüger, der gegen Kriegsende gemeinsam mit ihrer Mutter auf einem der Todesmärsche die Flucht gelang.

Seit 20 Jahren gedenkt der Bundestag der Opfer des Nationalsozialismus immer am Jahrestag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945. Bundestagspräsident Norbert Lammert erinnerte an all jene, die in den Konzentrationslagern ein kaum vorstellbares Ausmaß an „Unfreiheit und Willkür“ erlitten hatten - an die ermordeten Juden Europas, die Sinti und Roma, die Kranken und Behinderten, die Homosexuellen, die Andersdenkenden, die Kriegsgefangenen und Deserteure.

„Wir erinnern an unvorstellbare Menschheitsverbrechen, an Völkermord und daran, was Menschen anderen Menschen angetan haben“, sagte er. Bei der Befreiung der Konzentrationslager seien zugleich „Millionen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter gerettet worden, denen Deutsche die Freiheit geraubt hatten, um ihre Arbeitskraft auszubeuten“.

Mehr als dreizehn Millionen Menschen seien innerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs gezwungen gewesen, unter unwürdigen Bedingungen zu arbeiten. Die Anzahl derer, die in den besetzten Gebieten Zwangsarbeit leisten mussten, könne nur vage geschätzt werden. Lammert sprach von Zwangsarbeit als einem Massenphänomen, das lange nicht den ihm gebührenden Platz in der deutschen Erinnerungskultur bekommen habe.

Als im Zuge der Gründung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ ab dem Jahr 2000 symbolische Ausgleichsleistungen gezahlt wurden, sei es für viele ehemalige Zwangsarbeiter zu spät gewesen.

Ruth Klüger - als Kind jüdischer Eltern in Wien geboren und 1942 mit ihrer Mutter deportiert - überlebte drei Konzentrationslager, darunter Auschwitz. Im Bundestag erzählte sie mit eindringlichen Worten, wie sie sich als Zwölfjährige drei Jahre älter machte, um vom Todeslager Auschwitz in das Arbeitslager Christianstadt – ein Außenlager des niederschlesischen Konzentrationslagers Groß-Rosen - verlegt zu werden.

Das Arbeitslager habe für sie anfangs Erleichterung bedeutet, bis sie auch dort im bitterkalten letzten Kriegswinter von der Verzweiflung und der Frage eingeholt wurde, wie lange sie die Zwangsarbeit noch aushalte. Vom Steinbruch, dem Inbegriff des Arbeitslagers, träume sie noch heute manchmal, berichtete sie. Frauen seien aber nicht nur für alle Arten schwerer Arbeit bis zum Verhungern ausgenutzt worden, sondern auch für Prostitution. Ruth Klüger forderte, die Opfer der sexuellen Zwangsarbeit beim Gedenken mit einzuschließen.

Die Literaturprofessorin, die mit Verwunderung die Verdrängung von Zwangsarbeit im Nachkriegsdeutschland schilderte, würdigte den Wandel, der sich in Laufe der Generationen im Lande vollzogen habe. Heute gewinne Deutschland den Beifall der Welt für seine geöffneten Grenzen und seine Großzügigkeit gegenüber syrischen Flüchtlingen. Dies sei der Hauptgrund, warum sie mit Freude die Einladung des Deutschen Bundestages angenommen habe. Denn in Deutschland sei mit dem „schlichten, aber heroischen Slogan: Wir schaffen das“ ein Vorbild entstanden.